«See-Bühne St. Moritz»
Bild: Michael Peuckert, Basel

in eigener Sache

9.7.2012, Christoph Sauter und Cordula Seger

Lernen von St. Moritz

Mit Unterstützung der Gemeinde St. Moritz, des Instituts für Bündner Kulturforschung sowie des Amts für Raumentwicklung Graubünden geht unsere Beschäftigung mit der historischen Entwicklung des Kurorts St. Moritz in die zweite Runde. Nun geht es darum, die Erkenntnisse aus dem 1. Meilenstein, die unter www.scenarena.com aufgeschaltet sind, zu ergänzen, zu verdichten und methodisch zuzuspitzen. Das Projekt, das im Frühjahr 2014 in eine Publikation münden soll, zielt darauf ab, die gebaute Geschichte von St. Moritz zu erforschen und die daraus resultierenden formalen Prinzipien in einem Leitbild zusammenzufassen. Entsprechend liefert das Projekt aus einer methodisch vielschichtigen Beschäftigung mit dem Bestand und dessen Entwicklung bis heute zentrale Anhaltspunkte für eine zukünftige Bebauungsstrategie, die eine qualitative Verdichtung verfolgt.

Die Architektur ist überall und damit kaum irgendwo spezifisch. Sie hat ihren Ort verloren in der ubiquitären Konstruktionsweise des Betonskeletts, in der nivellierenden Macht der Haustechnik, in der digitalen Allpräsenz, im internationalen Starkult der medial verwertbaren Ikons. Dass Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour mit ihren Studierenden in der Wüstenstadt den maximalen Nicht-Ort, die Fata Morgana einer überhitzten Zivilisation gesucht haben, um von Las Vegas zu lernen, ist ein ironischer Kommentar zu jenem Stil, der sich seit den 1920er Jahren international gebärdet und heute, im global village, ein Netz von Nicht-Orten im Sinne Marc Augés aufspannt. Die Stadien und Bürotürme, die Hotelkettenpaläste und Museumsburgen, von einer Handvoll international tätiger Architekturbüros entworfen, sind in diesem Web zu schnellen Bildern geworden, haltlos dem Durchgang bestimmt.

Haltepunkte sollen jedoch nicht in der rückwärtsgewandten Utopie des Vernakulären oder Authentischen gesucht, sondern über das Dazwischen des Alltäglichen erschlossen werden. Es geht darum, was nie geschrieben wurde, zu lesen und damit eine Lektüre des Bestehenden zu provozieren, die den Betrachter sinnlich erfasst. Venturi, Scott Brown und Izenour haben gezeigt, dass das scheinbar maximal Andere, Banale des Strips in seiner Reihung und Verdichtung gerade das Spezifische ist. Damit verweisen sie auf die Relevanz einer beständigen Relektüre des scheinbar Bekannten, auf die Bereitschaft der Architektur zu lernen, statt zu belehren, zu interpretieren, statt zu reklamieren, zu untersuchen, statt zu behaupten. In diesem Sinn bleibt «Lernen von Las Vegas» eine Aufforderung, sich verlangsamt, sinnlich, mit Kopf, Hand und Bauch den Nicht-Orten anzunehmen und sie so wieder erfahrbar, haltbar zu machen. Existierendes zu lesen, Bekanntes zu hinterfragen und Neues aus dem Erkannten zu schöpfen, kann überall dort geschehen, wo man bereit ist, sich einzulassen und damit die selbstgenügsame Moral, Gutes von Schlechtem zu unterscheiden, aufzugeben. Relevant ist also, die Mythen der Architektur mit der historischen Konstruktion dessen zu konfrontieren, was ist. Was weit weg ist, inspiriert  – formal, das Nahe oder Nächste aber provoziert. Für uns, die wir im Engadin tätig sind, heisst diese Provokation St. Moritz. Für andere heisst sie vielleicht Spreitenbach oder Schaffhausen. Einer aktuell im hohen Mass selbstreferentiell agierenden Architektur, die sich auf Materialexperimente kapriziert, Konstruktion als Spektakel betreibt und sich radikal gibt – der Zürcher Stadtbaumeister Patrick Gmür spricht in einem Interview gar davon, dass «viele Architekten heute relativ autistisch bauen» –, möchten wir zeigen, was man von St. Moritz lernen kann und sich dadurch ein methodisches Rüstzeug erwirbt, das Stadtlandbau anstelle von Nabelschau betreibt.

www.scenarena.com