Lektüre

22.2.2013, cs

Blick in die Vergangenheit

Hinter dem Pseudonym Silvia Andrea verbirgt sich die gebürtige Zuozerin Johanna Gredig, die 1861 den Zollbeamten Agostino Garbald heiratet und gemeinsam mit ihrem Mann in Castasegna, an der Grenze zu Italien, ein Haus baut, das die Weltläufigkeit des Paars wunderbar verkörpert. Als Architekten wählen sie Gottfried Semper. In diesem Haus hat Silvia Andrea ihr ganzes produktives Leben verbracht. Mit historischen Romanen zu Graubündens Vergangenheit ist sie bekannt geworden, starke Frauenfiguren aber stehen in all ihren Texten im Mittelpunkt. Die Landschaften des Engadins und Bergells lagen ihr am Herzen, sie sind immer wieder Schauplatz literarischer Reflexionen.

Silvia Andrea: Bilder aus Graubünden. Das Engadin, in: Schweizerisches Familien-Wochenblatt, 8. Jg., 1888–89, S. 245.

«Der St. Moritzer See liegt zwischen Dorf und Bad St. Moritz. Der halbstündige Weg am linken Ufersaume ist eine ununterbrochene Kette von Villen und Chalets. Hier entfaltet sich zu gewissen Tageszeiten die ganze Pracht großstädtischen Lebens zum Verdruß des Naturschwärmers, der in ländlicher Abgeschiedenheit sein Gefühlleben pflegen möchte, zum Entzücken des eleganten Badegastes, der während seiner Kur städtische Gewohnheiten und Zerstreuungen nicht entbehren will. Im Dorfe St. Moritz ist das ländliche Element fast verwischt. Moderne Bauten sind an Stelle der altersgrauen, schiefwinkeligen Häuschen getreten. Der hemdärmelige Bauer, die hochgeschürzte Mähderin sind in den Dorfgassen viel seltenere Erscheinungen als elegante Equipagen und nehmen sich nicht anders aus als verirrte Heublumen in einem Kunstgarten.

Hingegen die Dörfer weiter unten im Thal, die vom Fremdenstrom nicht so sehr berührt werden, haben ihren ursprünglichen Charakter rein bewahrt. Wer Land und Leute studieren will, findet hier besser Gelegenheit als in den von Fremden wimmelnden Ortschaften. Diese alten Engadiner Dörfer zeigen eine ganz eigentümliche Bauart. Die Häuser liegen vorn, hinten, durcheinander, wie eine Heerde Schafe. Ihre gänzliche Planlosigkeit läßt den Schluß ziehen, daß jeder Eigentümer sein eigener Baumeister war. Vielleicht versahen dienstfertige Nachbarn die Stelle von Maurern und Zimmerleuten. Hier an der Sonnenseite wurde Raum gelassen für ein warmes Stübchen und darüber die Kammer, dort mußten Küche und Vorratskammer angebracht werden, vielleicht wurde hie und da ein Fenster oder eine Stiege vergessen, das wurde nur schnell nachgeholt und hoch oben unter der Diele noch ein Loch gelassen oder ein Treppchen mit einer Fallthür eingefügt. Trotz dieser Widersprüche herrscht eine große Uebereinstimmung in den Häusern. Klima und landwirtschaftliche Verhältnisse gaben unmittelbare Gesetze. Die Wirtschaftsräume hängen mit dem Wohngebäude zusammen. Das gewaltige Thor führt zu beiden zugleich und ist auf die Einfahrt von Heuwagen berechnet. Das Dach ist der Schneemassen wegen sehr steil, so daß die Giebelseite manchmal eine sehr imposante Facade darstellt, während die Querseite nur ein Stockwerk zeigt. Die Wohnstube liegt zu ebener Erde und bietet einen höchst behaglichen Anblick. Man sieht, daß sie viel bewohnt und mit Liebe gepflegt wird. Der neun Monate lange Winter bannt den Bauer die längste Zeit ans Haus. Der Fusßboden ist weiß gescheuert, die Wände sind mit hübscher Arvenholztäfelung bekleidet. Den Hauptschmuck bildet ein großer Schrank mit allerlei Thürchen, Schubläden und Geheimfächern. Um den ungeheuren Ofen fehlt nirgends die Ruhebank; hinter dem Ofen führt ein Treppchen durch eine Fallthür zur Schlafkammer. Allen alten Häusern sind kleine, schießschartähnliche Fensteröffnungen eigen. In neueren Häusern findet man luxuriös ausgestattete Gemächer; die allerliebsten Stuben sind wahre Stapelplätze für allerlei Erzeugnisse modernen Comforts.»